Tuesday, January 28, 2014

ATLANTIS-Deutung

Ein platonischer Mythos
Über die möglichen historischen Anknüpfungstatbestände, z. B. den Untergang der ÄgäisinselSantorin im 17. Jh. v. Chr., lässt sich zur Zeit kaum wissenschaftliche Übereinstimmung erzielen. Über den philologisch fiktionalen Charakter des Inselreiches Atlantis besteht in der Wissenschaft dagegen weitgehend Einigkeit. Auf die Frage, was die Botschaft dieser Erzählung gewesen sei, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Antworten. Die Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ sind als Ergänzung und Fortsetzung der „Politeia“ geschrieben. Die Atlantis-Erzählung diente dabei als Demonstration der praktischen Bewährung des idealen Staates. Es handelt sich um einen platonischen Mythos und somit nur um eine von vielen fiktionalen und mythischen Darstellungen in Platons Werken.
Zweck des Mythos
Der Zweck dieses Mythos ist nach herrschender Auffassung, eine zuvor diskutierte Theorie auf eine praktische und anschauliche Ebene zu heben, um so ihre Funktionalität und Richtigkeit zu bestätigen. In diesem Sinne wird am Ende der „Politeia“, nachdem die Frage ‚Was ist Gerechtigkeit?‘ diskutiert wurde, von Sokrates die (scheinbare) Bestätigung seiner Thesen dadurch beigebracht, dass die „wahre“ Geschichte des Pamphyliers Er erzählt wird (Pol. 614b). Dieser habe in einer Art Nahtoderfahrung die Unterwelt gesehen und dabei die Erkenntnis erlangt, dass gerechte Menschen nach dem Tod zehnfach belohnt würden, ungerechte Menschen jedoch zehnfach bestraft. An späterer Stelle, zu Ende des neunten Buches der „Politeia“, wird ferner die Frage erörtert, ob sich ein gerechter Mensch am politischen Leben seines Stadtstaates beteiligen solle. Auf Sokrates’ Antwort, der Gerechte könne sich engagieren, vielleicht jedoch nicht in seiner irdischen Polis, entgegnet Glaukon, dass ein solcher Idealstaat nur als ein „Muster“ (παράδειγμα) im „Himmel“ der Ideen zu finden sei, woran man sich halten könne (Pol. 592a-b). Es bleibt jedoch umstritten, inwieweit diese Anspielung einen Hinweis auf eine späte Praxisnähe der platonischen Staatsphilosophie und damit die Grundlage des Atlantis-Mythos darstellen könne.Im Fall der Atlantis-Erzählung ist es die Theorie vom Idealstaat, die einer realen Bestätigung bedurfte. Am Anfang steht der Wunsch des Sokrates, den Idealstaat einmal in der „Bewegung“ eines Gedankenexperiments zu sehen. Zu diesem Zweck wird der Mythos vom einst in Athen existierenden Idealstaat „auf eine geheimnisvolle Weise durch eine Art Zufall“ am Heimweg von einem früheren philosophischen Gespräch eingefallen wäre (Tim. 25 e). In dieser Passage betont Kritias, dass man den Atlantis-Stoff günstig an den theoretischen Inhalt der „Politeia“ angleichen könne: „Wir wollen aber die Bürger und den Staat, den du uns gestern wie erdichtet (ὡς ἐν μύθῳ) darstelltest, jetzt in die Wirklichkeit (ἐπὶ τἀληθὲς) übertragen und hier ansiedeln, als sei jener Staat der hiesige, und von den Bürgern, die du dir dachtest, werden wir sagen, sie seien jene reale Vorfahren von uns, von denen der Priester erzählte.“ (Tim. 26c-d). Die scheinhistorische Überlieferungsgeschichte soll die mehrfach behauptete Realität unterstreichen. Wie jeder platonische Mythos erhebt auch die Atlantis-Erzählung den Anspruch auf Wahrheit, jedoch nicht im Sinne von „historisch wahr oder unwahr“, sondern im Sinne einer philosophischen Wesenswahrheit.Die Gegner Athen und Atlantis sind idealtypisch als einander diametral gegenüberstehende Gemeinwesen konstruiert: Auf der einen Seite die kleine, stabile und wehrfähige Landmacht, auf der anderen Seite die an ihrem Expansionsdrang zerbrechende Seemacht. Dieser bewusste Gegensatz wird in der Forschung als eine politische Allegorie auf die expansive Seemachtspolitik des realen Athen verstanden. Platon hatte 404 v. Chr. die Niederlage seiner Heimatstadt im Peloponnesischen Krieg miterleben müssen, der einst durch das Hegemoniestreben der Athener in der Ägäis ausgelöst worden war. Wenige Jahrzehnte später, als Athen wieder einen Teil seiner ehemaligen Macht zurückgewonnen hatte, wurde der einst infolge der Niederlage aufgelöste Attische Seebund – wenn auch nicht in gleicher Dimension – neu gegründet. Platon könnte befürchtet haben, dass Athen diese Fehler wiederholen und auf eine vergleichbare Katastrophe zusteuern könnte. Um dem entgegenzuwirken und die Mitbürger zu belehren, dürfte Platon die Geschichte von der an Expansionismus zugrunde gegangenen Seemacht Atlantis und der siegreichen Landmacht Ur-Athen erfunden oder benutzt haben: „Er zeigte die Gefahren auf, die eine solche imperialistische Seemacht erwarten […], und er versuchte sozusagen den quasi-historischen Beweis zu erbringen, dass ein Staat, der wie sein Idealstaat eingerichtet war, sich in einer solchen Lage überzeugend bewähren würde“, wie Nesselrath resümiert.Die Umstände, dass im Atlantis-Mythos das Ur-Athen als über tausend Jahre älter als Ägypten dargestellt wird und zudem die Göttin Athene-Neith beide Gesellschaftsordnungen begründet haben soll, wird als Reaktion Platons auf mögliche Plagiatsvorwürfe gedeutet.
Dies hängt mit Platons Werk über den Idealstaat – „Politeia“ – zusammen: Ein Kritiker Platons, Isokrates, hatte als unmittelbare Reaktion auf die „Politeia“ eine Schrift mit dem Titel „Busiris“ verfasst, nach der der gleichnamige – nur in der griechischen Mythologieexistierende – ägyptische König in seinem Land eine Gesellschaftsordnung eingerichtet hatte, die diejenige des platonischen Idealstaats vorwegzunehmen scheint. Platon, so die Theorie, habe nun darauf mit einem Mythos geantwortet, laut dem nicht in Ägypten, sondern in Athen zuerst der Idealstaat existierte. Zudem sind es bei Platon gerade ägyptische Priester, die den Griechen diese Erkenntnis bringen.Als Grund für die fingierte Überlieferungsgeschichte kann Platons „Konkurrenz“ zu Homer gesehen werden.Schon in der „Politeia“ schrieb Platon von dem „alten Streit zwischen Dichtung und Philosophie“ (Politeia 607b). In seinem Anspruch, die mythisch-poetischen Werke Homers durch seine eigenen, philosophisch durchdachten Mythen wie Atlantis zu „ersetzen“, beruft sich Platon eben nicht wie der Dichter auf Musen, sondern auf historische Überlieferungen (deren Ursprung jedoch absichtlich so weit im Dunkeln liegt, dass sie unmöglich überprüft werden können). Im „Timaios“ spricht Kritias davon, dass Solon ursprünglich geplant habe, den Stoff „Atlantis“, den er in Ägypten vernahm, künstlerisch zu verarbeiten. Er sei jedoch davon abgehalten worden, weil man ihn in Athen als Politiker gebraucht habe (dies ist allerdings chronologisch nicht möglich, da Solon erst nach seiner „politischen Karriere“ Ägypten besuchte). Hätte er den Atlantis-Mythos in Poesie verwandelt, so ist sich Kritias sicher, hätte dieses Werk die Homerischen Epen Ilias undOdyssee weit überstrahlt (Tim. 21d).

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